Gemeindehaus wird zum Friseursalon

Gewöhnlich verhilft Dilek Güvenc ihrer Kundschaft in ihrem Salon zu einen neuen Look. Für den guten Zweck lässt sie allerdings auch im Gemeindehaus St. Josef die Schere klappern und das kostenlos.

Dilek Güvenc lässt ihre Schere klappern. Gut gelaunt tut sie, was sie immer tut, aber heute ist vieles anders als sonst. Sie steht nicht in ihrem Friseurladen in der Ostertorstraße in Verden, und der neue Look, den sie ihren Kunden verpasst, ist kos­tenlos. Güvenc zählt zu den hilfreichen Engeln, die überall in ganz Deutschland dafür sorgen, dass auch Menschen mit sehr wenig Geld sich mal wieder gern im Spiegel anschauen mögen.

Am Sonntag hat sie ihr temporäres Frisierstübchen im Foyer des Gemeindehauses von St. Josef aufgebaut. Seit zwei Jahren ist sie Mitglied des Vereins Barber Angels Brotherhood, der in ganz Deutschland, Ös­terreich und der Schweiz obdachlosen und bedürftigen Menschen kostenlos die Haare schneidet. In Niedersachsen hat kein Geringerer als Ministerpräsident Stephan Weil die Schirmherrschaft für die Einsätze der karitativen Organisation übernommen. "Wir bekommen ganz viel Unterstützung für unsere Aktionen", freut sich die Friseurin. Und das aus gu­tem Grund: "Wir schenken den Men­schen ein Stück Würde", erklärt sie voller Stolz. Auch einige Hersteller von Fri­seurmaschinen oder Spezial-Pflege­mit­teln sind mit im Boot, sodass die Friseurin ihre Kunden mit Cremes und Gels verwöhnen kann. Und LEITSPRUCH UMGESETZT

Auch in der Propsteigemeinde St. Josef ist man von der Idee begeistert. Eberhard Walther, der die Aktion für den Kirchenvorstand begleitet, erklärt, wa­rum: "Ein  Leitspruch unserer Gemeinde lautet 'Wir begleiten und helfen im Le­ben, besonders den Armen und Benach­teiligten', und hier wird dieser Gedanke ja  die Tat umgesetzt." Für die Barber Angels sei es nicht immer leicht, einen Ort für ihre Aktionen zu finden, denn es gebe vonseiten mancher Institutionen Vorbehalte und Befürchtungen. "Wir in St. Josef halten das für völlig unbegründet." Und so macht die Gemeinde nach der großen Haarschneideaktion zu Weihnachten nun schon zum zweiten Mal den Gastgeber und ergänzt die Aktion mit Kaffee und einem Mittagsimbiss aus warmen Würstchen, Brot und Senf. Da wird das Haareschneiden zum geselligen Ereignis, und bald hat sich am Gartentisch vor dem Haus eine fröhliche Plauderrunde eingefunden.

Marita Ehlert wohnt in einer Wohnung von "Lebensraum Diakonie" am Nikolaiwall. "Ich finde, das ist eine tolle Sache", sagt die 64-jährige Verdenerin, die auch ehrenamtlich in der Gemeinde tätig ist. "Klar, ich bin keine Obdachlose, aber ich habe nicht viel Geld, und zum Friseur gehen, das kann ich mir nur ganz selten leisten. Das kostet ja so viel wie eine ganze Woche Lebensmittel."

 

DANKBAR FÜR ANGEBOT

Für das Angebot eines kostenlosen Haarschnitts konnte man sich in der Diakoniestation anmelden. Edgar W. (66) ist schon zum zweiten Mal hier. "Ich bin ja schwer krank", sagt der Rentner. "Ich hatte meinen Gesellenbrief als Konditor schon, bevor ich volljährig war, und ich habe meinen Beruf geliebt." Aber bald darauf kam eine ganze Folge von Krankheiten, die die Berufszeiten immer wieder unterbrachen. "Heute kann ich kaum noch laufen, und meine Rente ist zum Sterben zu viel, zum Leben zu we­nig." Ihm fällt es gar nicht schwer, dieses Angebot anzunehmen: "Nein, wieso? Man nimmt ja keinem was weg!"

 

Gerade sitzt Ingo Oswald auf dem Stuhl. Er ist mit richtig dicker Wolle auf dem Kopf angekommen. Geschickt formt Dilek Güvenc die Konturen seines Kop­fes wieder nach, dabei fallen dichte Flocken von Haar zu Boden. "Meine Haare habe ich von meiner Mutter geerbt", sagt er. "Die wachsen richtig schnell." Os­wald kommt aus dem Havelland. "Damals habe ich Facharbeiter für Email­lierarbeiten gelernt. Dann kam die Wende, und meinen Beruf gab es nicht mehr." Er machte eine Umschulung zum Maurer und zog bald darauf mit seiner jungen Familie in den Westen. "Insgesamt habe ich zehn Jahre als Maurer gearbeitet, dann hat mein Körper nicht mehr mitgemacht." Arbeitslosigkeit, Trennung, Hartz IV: "Das Geld reicht hinten und vorne nicht." Aber seinen Stolz und seine Lebensfreude lässt sich der 57-Jährige nicht nehmen. Als er fer­tig ist, sind alle begeistert: "Das sieht richtig Klasse aus", findet auch Eberhard Walthers Frau Barbara, die die ganze Zeit für Nachschub bei Kaffee und Keksen sorgt und in der Küche schon die Würstchen wärmt.

VEREIN WILL EXPANDIEREN

Dilek Güvenc lernte die Barber Angels auf einer Fachmesse kennen und trat dem Verein spontan bei. "Ich helfe sowieso gern Menschen. Und hier kann ich mit dem helfen, was ich am besten kann." Die Türkin lebt seit 23 Jahren in Verden. Sie weiß, was es bedeutet, ganz unten zu sein: "Ich musste damals gegen meinen Willen heiraten. Irgendwann musste ich mit drei Kindern ins Frauenhaus fliehen, kein Geld, keine Perspek­tive". Sie hat sich aus eigener Kraft ein neues Leben aufgebaut. Als die jüngste Tochter volljährig war, hat sie sich in der Ostertorstraße 7 mit "Dilek's Friseur" selbstständig gemacht. "Wir haben bald fünfjähriges Bestehen", sagt sie stolz. Und damit nicht genug: Nach 35 Jahren hat sie während eines Türkei-Urlaubs ihre erste Liebe wiedergetroffen. "Wir durften ja damals nicht heiraten. Aber jetzt ist alles wieder so wie am ersten Tag. Ich bin glücklich." Noch muss es eine Urlaubsbeziehung bleiben, doch eines Tages wird Dilek Gülvenc in die Türkei zurückgehen: "Dann werde ich dort als erstes die türkischen Barber Angels gründen."

Von Susanne Ehrlich